Flucht nach Feudingen

Schulklasse Scheidelwitz

Schilderung einer Gemeinde aus Schlesien für das Archiv der Stadt Bad Berleburg von der Partnergemeinde Scheidelwitz, verfasst von Willi Raabe senior *Scheidelwitz +Feudingen

Einleitung
Die Gemeinde Scheidelwitz, Krs. Brieg, Reg. Bez. Breslau hatte im Durchschnitt 750 Einwohner, war 3000 Morgen groß und hatte keinen Industriebetrieb. Die gesamte Feldmark bestand aus Ackerland und Wiesen. Ein voll erwerbsfähiger landwirtschaftlicher Betrieb lag bei einer Größe von 40 Morgen.

Die Arbeiterschaft war größtenteils in den Industrien in der Kreisstadt tätig. Die Entfernung betrug 7 km.

Von der Gemeinde Scheidelwitz befindet sich eine Chronik für die Jahre von 1200 bis 1700 in der Volksbücherei in Herne.

Flucht aus der Heimat
Am 13.Januar 1945 wurde eine Gemeindeversammlung einberufen, in der die Parteileitung ankündigte, daß die Bewohner der Gemeinde evtl. evakuiert würden. Bis jetzt ist aber noch keine Gefahr, es sollen aber Vorsichtsmaßnahmen erfolgen. Jede Familie soll sich darauf vorbereiten Lebensmittel, Kleidung, einige Betten, Wäsche und die dringendsten Haushaltsgeräte zur Verpackung bereit zu halten. Für jede Familie kann nicht ein Wagen zur Verfügung gestellt werden. Wir müssen damit rechnen, daß nur für 2 bis 3 Familien ein Wagen bereitsteht. Ich erhielt den Auftrag einen Verteilungsplan aufzustellen, sodaß alle Familien Gelegenheit hatten das Dorf gemeinschaftlich zu verlassen.

Am 19. Januar 1945 gegen 20 Uhr erhielten wir den Befehl, daß sämtliche Einwohner am nächsten Tag um 10 Uhr mit dem Treck das Dorf verlassen müssen. Es herrschte große Unruhe und Verzweiflung. Den Familien wurde geraten, vor allem Betten mitzunehmen, damit die Kinder auf der Fahrt nicht erfrieren. Niemand wußte wohin es geht. Der Treck verließ das Dorf am 20.01.1945 gegen 10 Uhr bei hohem Schnee und großer Kälte. Einige Wagen hatten keine männliche Führung. Die Männer des Volkssturm I mußten sich am selben Tage sofort in der Kreisstadt Brieg melden und kamen auf der linken Oderseite in Einsatz. Die Männer vom Volkssturm II blieben vorläufig zurück und sollten sich am nächsten Tage in der Barthold Stellung zum Einsatz melden.

Nun kam die Stunde der Trennung von der Heimat, Haus, Hof, Vieh und nur ein kleiner Teil von Hab und Gut hatte auf dem Treckwagen Platz. Alles andere mußte zurückgelassen werden.
Der Abschied war schwer, weinende Frauen und Kinder verließen hinter den Treckwagen laufend das Dorf, niemand wußte ob sie den Mann und Vater noch einmal wiedersehen werden.

Fünf alte Männer und eine ältere Frau blieben am Ort zurück, da sie infolge Alter und Krankheit den Treck nicht mitmachen konnten.

Die Männer des Volkssturm kamen nicht mehr zum Einsatz, die Front war schon zu weit vorgerückt. Somit blieben die Männer des Volkssturm II noch weitere 24 Stunden in Scheidelwitz. Wir waren 20 Mann und mußten jede Stunde mit dem Einmarsch der Russen rechnen.

Das Vieh sollten die Fremdarbeiter versorgen. Über 1000 Stück Rindvieh waren in den Ställen angebunden. Die große Zahl von Zucht- und Mastschweinen blieben in den Ställen. Vor Hunger brüllte und schrie das Vieh.

Am 21. Januar 1945 kam der Kreisbauernführer in das Dorf und teilte mir mit, daß das Vieh nicht mehr abtransportiert werden kann, die Straßen sind von den Treckwagen verstopft.
Er gab uns den Rat das Dorf unauffällig zu verlassen, damit es die Fremdarbeiter nicht merkten. Das haben wir auch getan, und es war gut, sonst wären wir alle in Gefangenschaft geraten. Wir erreichten am 22. Januar 1945 morgens um drei Uhr den Treck unseres Dorfes, dem wir uns anschlossen. Mit großer Freude wurden wir von den Familienangehörigen empfangen.

Die Fahrt des Trecks ging weiter. Täglich wurden bis 40 km erreicht. Erwachsene und Kind er ab 8 Jahren mussten bei der grimmigen Kälte und hohem Schnee zu Fuß gehen. Es war ein Bild des Grauens. Die Kinder fuhren abwechselnd auf Rodelschlitten hinter den Wagen. Bei Eintritt der Dunkelheit mussten wir Notquartier suchen. Die Kinder wären uns sonst erfroren. Zehn Personen in einem Raum auf Stroh waren keine Seltenheit.

Das Schrecklichste aber war, als wir in die Berge kamen; wir lebten doch im Flachland. Kein Wagen hatte keine Bremse. Bergauf erzogen die Pferde nicht die Schwerbeladenen Wagen und bergab war es noch schlimmer. Die Pferde konnten die Wagen nicht halten. Wir mußten eine Ruhepause einlegen.
Die Bergbauern halfen uns beim Anbringen der Bremsen an die Wagen.

Da in unserer Heimatgemeinde Pferde betrieben wurde, hatten mehrere Bauern vor ihren Treckwagen hochtragende Stuten. Um die Pferde zu schonen konnten sie dem Treck nicht folgen und mußten Quartier beziehen. Die Anderen gelangten bis in den Sudetengau, ja sogar ein Teil bis nach Bayern.
Der größte Teil befand sich in dem Sudetengau als und die Russen einholten. Kurz bevor die Russen kamen, bewegte sie der lange Treckzug auf einer Bergstraße. Rechts hohe Boschung, links tiefe Schlucht. Deutsche Soldaten kamen auf ihren Pferden im Galopp geritten, die Geschütze mußten sie stehenlassen.
Dann ging eine Meldung durch "die Straße frei". Alles was sich noch auf der Straße befände würde von russischen Panzern überrollt. Wir hatten das Glück noch rechtzeitig die Straße zu verlassen. Noch am selben Tag wurden wir von den russischen Truppen überholt.

Der Befehl der Russen lautete: "Alles zurück in die Heimat ".

Der Rückmarsch in unser Heimatdorf
Mit großer Freude wurde der Befehl aufgenommen, aber bald kam die große Enttäuschung. Unser Treckwagen war mit Habseligkeiten von vier Familien beladen. Wir entschlossen uns ein Pferd zu kaufen. Es ist uns gelungen von einem Flüchtling ein Pferd für DM 400 zu erwerben.
Nun fuhren wir mit drei Pferden der Heimat entgegen. Wir sahen nach ca. 10 km an einer Wegkreuzung russische Soldaten stehen. Sie hielten uns an und nahmen uns das gekaufte Pferd. Alles Bitten und Flehen half nichts. Nun hatten wir nur noch zwei Pferde.
Es war im Mai und schönes Wetter. Wir übernachteten im Freien und sobald die Sonne aufging setzten wir uns in Marsch.
Welch großer Schreck. In der nächsten Ortschaft nahmen uns polnische Zivilisten, bis an die Zähne bewaffnet, in Empfang.
Der Wagen mußte in einen Gutshof fahren. Sämtliche Sachen mußten abgeladen werden. Was den Polen gefiel, nahen sie uns weg.
Die Männer mußten in ein Zimmer, Geld, Wertsachen Uhren, Ringe usw. wurden ihnen abgenommen. Das Papiergeld konnten wir lediglich wieder zurücknehmen. Auch den Frauen wurde Uhren und Ringe abgenommen. Nun konnten wir weiter, aber am Ausgang des Dorfes wartete schon wieder ein anderer Trupp. Sie zwangen uns die Sachen abzuladen. Wertsachen hatten wir ja nicht mehr. Die Koffer mußten geöffnet werden, und was noch Wert hatte wurde uns genommen.

Viele Personen erkrankten, denn auf den Feldern an den Straßen lag verendetes Rindvieh. Es erzeugte einen schrecklichen Verwesungsgeruch. Wir mußten uns die Taschentücher vor den Mund halten.
Mit großer Mühe kamen wir endlich in unseren Heimatkreis. In den Gemeinden links der Oder hatten sich schon Polen angesiedelt, die nun Pferde brauchten. Den Rückkehrern wurden die noch brauchbaren Pferde beschlagnahmt. Die meisten Treckwagen kamen nur noch mit einem Pferd am Heimatort an.
Wir waren kurz vor Pfingsten im Heimatkreis Brieg. Dort mußte unser Gespann den Acker pflügen. Wir mußten für die Polen die Kartoffeln aus den Mieten lesen und legen.
Am Dienstag nach Pfingsten ist es uns gelungen bei Morgengrauen über die Oder zu kommen. Da warteten wieder Russen. Sie suchten Pferde und Koffer, die sie zum verpackten der erbeuteten Sachen brauchten. Wir hatten nur noch 6 km bis in unser Dorf Scheidelwitz. Einige Scheidelwitzer waren schon da. Der Treckwagen wurde schnell in die Scheune gefahren, denn wo die durchfahrenden Russen im Hof einen Treckwagen sahen wurde geplündert.
In den Wohnhäusern waren die Schränke ausgeräumt. Alles was nicht mitgenommen wurde lag auf dem Fußboden zerstreut. Es sah furchtbar aus, alles lag im Schmutz. Die Wohnngen mußten erst ausgeräumt und gereinigt werden. Sämtliche Nähmaschinen, Radios, Uhren, Haushaltsmachinen und Geräte waren von den Russen in Beschlag genommen.
In den Ställen lag verendetes Vieh. Lebendes Vieh war nicht mehr vorhanden. Was die zurückgebliebenen Personen in unserer Abwesenheit erlebt haben, kann man an dieser Stelle nicht niederschreiben.
Ein alter Mann war an den erlittenen Verletzungen erlittenen gestorben. Viele Familien hatten vor der Flucht Pelze, Kleidung, Wäsche und wertvolle Gegenstände versteckt: teilweise in den Scheunen, Gärten und Feldern vergraben. Die zurückgebliebenen Männer mußten die versteckten Sachen suchen und wenn sie nichts fanden, wurden sie verprügelt. Sämtliche landwirtschaftlichen Maschinen, die noch in gutem Zustand waren wurden von den russ. Soldaten abtransportiert.
Im Dorf waren russische Artillerie und Panzer in Stellung, die die deutschen Stellungen links der Oder beschossen. In unserer Gemeinde waren fünf Wohnhäuser, zwei Stallgebäude und zwei Scheunen durch Beschuß ausgebrannt. Das Geschäftshaus Raabe und die Gastwirtschaft Pusch wurden nach deren Plünderung in Brand gesteckt und sind bis auf die Kellerdecke ausgebrannt.
Unsere evangelische Kirche war äußerlich nicht beschädigt. Im Innern wurde die Orgel völlig demoliert. Die Orgelpfeifen lagen z.T. auf der Dorfstraße verstreut. Von dem Altar war das Kruzifix entfernt.

In größter Angst lebten die Mädchen. wenn russische Militär gesichtet wurde, flüchteten sie in die Getreidefelder. Die Russen schossen mit Maschinenpistolen in die Getreidefelder. Die Mädchen wurden zum Glück nicht verletzt. Nachts versteckten die Mädchen sich auf dem Heuboden tief im Heu. Die Deutschen waren wehrlos, rechtlos und den feindlichen Truppen preisgegeben.

Wenn die Russen Arbeitskräfte suchten, holten sie Männer und Frauen aus den Häusern, behielten diese Tage und auch Wochenlang, dann konnten sie wieder in das Dorf zurückgehen.
Nach einigen Tagen trat etwas Ruhe ein. Die Bauern bestellten so gut es ging wieder die Felder. Nach zwei Wochen aber kamen die ersten Polen. Es war eine Abordnung, die die Felder und Gebäude besichtigten, die Höfe, Äcker, Wiesen und die Häuser ohne Landwirtschaft aufteilten und verteil ten. Unter den Deutschen herrschte nun große Unruhe und Angst, was mit uns geschehen wird, wenn die Polen kommen.

Das Leben mit den Polen!
Die polnischen Familien aus der Gegend Lemberg wurden auf der Bahnstation Bischwitz ausgeladen und kamen mit den polnische Wagen, einem Pferd und Kühen in unser Dorf. Sie wurden in die aufgeteilten Höfe und Häuser verteilt. Die Polen betrachteten sich als Besitzer. Die Deutschen mußten ihre Wohnungen räumen.
Es wurde ihnen größtenteils nur ein Raum überlassen. Gebäude, Äcker, Wiesen, noch vorhandene Pferde, Ackergeräte und Maschinen wurden den polnischen Familien zugeteilt.

Auch der größte Teil der noch vorhandenen Möbel eigneten sich die Polen an. Nur das Allernotwendigste wurde den Deutschen gelassen.
Alle Deutschen, Männer, Frauen und Jugendliche mußten am linken Arm eine weiße Binde tragen. Wer ohne Binde angetroffen wurde machte sich strafbar und wurde von der polnischen Miliz geschlagen. Die deutschen Bauern mußten bei den Polen auf ihrem früheren Besitz arbeiten, erhielten dafür etwas Milch und konnten von den noch vorhandenen Kartoffeln ihren eigenen Bedarf decken. Fleisch, Fett und andere Lebensmittel gab es nicht. Deutsches Geld wurde nicht in Zahlung genommen.
Im Herbst 1944 waren die Felder ordnungsmäßig bestellt worden. Nach der Ernte 1945 erhielten die Deutschen für die Arbeit etwas Brotgetreide und Kartoffeln. Um die nicht in der Landwirtschaft beschäftigten Familien kümmerten sich die Polen nicht. Dort war die Not sehr groß. Viele alte Leute und Kinder starben an Unterernährung. Viele deutsche Familien waren gezwungen von den noch vorhandene wenigen
Kleidungsstücken und Wäsche zu verkaufen, um dafür etwas Öl, Fett oder Lebensmittel zu kaufen, damit die Angehörigen nicht verhungerten.
Die polnischen Behörden haben nichts unternommen um die Hungersnot zu lindern. Bis zur Ernte 1945 hatten die angesiedelten Polen auch nicht viel zu essen, denn sie wurden ja auch aus ihrer Heimat vertrieben. Jede Familie hatte aber ein bis zwei Kühe. Die Milch fuhren oder trugen sie täglich in die Stadt Brieg zum Verkauf. Sie mußten davon ihren Lebensunter­halt bestreitert. Arbeitsmöglichkeiten in der Industrie oder im Handwerk bestanden nicht. Die großen Nachbargüter wurden von den Russen verwaltet. Deutsche Männer und Frauen mußten zeitweise ohne Löhnung auf den Gütern arbeiten. Auch von den Polen wurden Deutsche zur Instandsetzung des Oderdammes unter polnischer Aufsicht ohne Löhnung beschäftigt.
Auf den Feldern lag noch viel verendetes Vieh, das von Deutschen vergraben werden mußte. Durch den starken Verwesungsgeruch erkrankten viele Männer; manche starben auch.
Für die von Juni 1945 bis August 1946 verstorbenen Deutschen, fehlten für die Beerdigung die Särge. Deutsche Männer haben aus alten gebrauchten Brettern Särge zusammengenagelt. Die Not war unbeschreiblich.

Den Polen wurden von den Russen nachts Pferde aus dem Stall gestohlen. Aus diesem Grunde mußten die deutschen Männer und Jugendliche nachts abwechselnd je vier Mann mit polnischen Zivilisten, die bewaffnet waren, das Dorf bewachen. Die Deutschen durften nicht einmal einen Stock bei sich tragen.
Die in unserem Dorf angesiedelten Polen waren keine Kommunisten und standen mit den Russen in keinem guten Verhältnis. Sie waren fromme Katholiken. Der Pfarrer hatte großen Einfluß auf sie. Wir Deutschen wurden von ihnen mit einigen Ausnahmen noch einigermaßen menschlich behandelt. In anderer. Gemeinden, in denen Kongreß-Polen angesiedelt wurden, herrschte noch schrecklichere Zustände.
Die deutschen Kinder konnten die polnische Schule nicht besuchen, da nur in polnischer Sprache unterrichtet wurde. Privater deutscher Unterricht war verboten. Drei deutsche Jungen unter 16 Jahren,
die früher der Hitlerjungen angehörten, wurden von der Miliz, die Kommunisten waren, abgeholt und in der Millizstation einige Tage gefangen gehalten. Sie wurden täglich fürchterlich geschlagen.
Unsere evangelische Kirche wurde von den Polen beschlagnahmt und zur katholischen Kirche erklärt. Durch Verhandlungen mit dem polnischen Pfarrer und Polen wurde diese uns an einigen Sonn­ tagen, nachmittags für evangelischen Gottesdienst zur Verfügung gestellt. Ein Pastor aus Brieg hielt jeweils die Predigt. Auch aus den Nachbardörfern strömten die Deutschen zum Gottesdienst, sodaß die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt war. Es wurden bis 1500 Besucher gezählt.
Den früheren Mitgliedern der N.S.-Partei wurde immer wieder angedroht, daß sie in der nächsten Nacht abgeholt Würden, sodaß diese überhaupt keine Nacht ruhig schlafen konnten. Ein Mitglied, ein alter Mann, der aber nichts getan hatte, wurde abgeholt. Er kam nach Breslau in ein Gefängnis und ist dort unter Qualen gestorben. Alle Deutschen wurden dauernd in Ungewißheit gehalten. Es wurden immer wieder Parolen verbreitet;
„Die deutschen Familien kommen weg nach Sibirien, dann wieder, die Polen müssen weg wir bleiben hier".
Wir wußten nichts von West- oder Ostdeutschland. Zeitungen bekamen wir nicht auch keine Briefe. Wir wußten nur von einer "Oder-Neisse-Grenze".
Nachdem die Ernte 1946 eingebracht war, wurde uns von den Polen erzählt, wir kommen weg nach Sibirien. An­ fang 1946 wurde bekanntgegeben: "alle Scheidelwitzer östlich der Kirche müssen das Dorf verlassen. Jeder darf nur so viel Gepäck mitnehmen, wie er selbst tragen kann“
Das Gepäck wurde von den Polen in die Kreisstadt gefahren. In der früheren Heil- und Pflegeanstalt, die rings um mit einer hohen Mauer umgeben war, befand sich die Sammelstelle. Alle Vertriebenen, Erwachsene und Kinder
mußten mit ihrem Gepäck in eine große Halle. Jedes Gepäckstück wurde von den Polen kontrolliert und nach Wertgegenständen durchsucht. Zuviel Gepäck wurde beschlagnahmt. Manche hatten Andenken in die Betten versteckt. Die Betten wurden abgetastet und wo ein Gegenstand vermutet wurde, wurden die Betten mit einem Messer aufgeschlitzt.
Die verborgenen Gegenstände wurden abgenommen. Die Vertriebenen mußten sich ihre Sachen schnell notdürftig zusammenpacken und konnten die Halle verlassen. Dann ging es zum Bahnhof. Dort standen die Güterwagen bereit. In jeden Waggon kamen 20 Personen und das Gepäck. Dieser Transport endete in der Ostzone.
Eine Woche später kam der größte Teil westlich der Kirche an die Reihe. Wir mußten den gleichen Leidensweg durchmachen. Wir wußten nicht wohin, kamen aber zum Glück in den Westen. Wir wurden wieder freie Menschen.
In Marienborn erfolgte die Registrierung. Von dort ging der Transport nach Siegen, wo sich sämtliche Personen einer ärztlichen Untersuchung unterziehen mußten. Bei den älteren Leuten wurde Unterernährung festgestellt.
Sie wurden in ärztliche Behandlung überwiesen. In den Kreis Wittgenstein kamen ca. 400 Personen.
Die Aufteilung erfolgte in Berleburg und in die umliegenden Dörfer in Notwohnungen. Anfangs wurde den Vertriebenen Mißtrauen entgegengebracht. Später hat sich ein harmonisches Verhältnis ergeben. Für die älteren Leute war es besonders schwer, sich in die veränderten Verhältnisse einzuleben. Das Bergsteigen fiel ihnen besonders schwer. Wir lebten in der Heimat ja im flachen Land. Nach und nach trafen dann auch die entlassenen Soldaten bei ihren Familien ein. Infolge der großen Arbeitslosigkeit war es anfangs für die Vertriebenen sehr schwer einen Arbeitsplatz zu erhalten.
Jetzt leben die Scheidelwitzer in 27 Gemeinden des Kreises Wittgenstein. Junge Leute sind in die Industriegegend verzogen. Der größte Teil der Mädchen und Jungen sind mit westdeutschen verheiratet. Nun leben die Scheitelwitzer in der Bundesrepublik von Bremen bis nach Bayern.
In dem Kreis Wittgenstein haben über 30 Scheidelwitzer ein eigenes Heim gebaut oder gekauft.

Wir Scheidelwitzer sind im Heimatgedanken alle verbunden. Im Juni 1957 haben wir in Berleburg ein Heimattreffen der Scheidelwitzer veranstaltet an dem ca. 400 Personen teilnahmen. Anläßlich der 700 Jahrfeier übernahm die Stadt Berleburg die Patenschaft für Scheidelwitzer. Die Patenschaftsurkunde wurde am 30. August 1958 während der Festsitzung dem Vorsitzenden der Scheidelwitzer Gemeinschaft Willi Raabe von dem Bürgermeister Grund überreicht.
1961 hatten wir ein Heimattreffen in Langewiese und 1963 in Raumland. Es haben ebenfalls wieder viele Scheidelwitzer aus nah und fern teilgenommen. Auch in diesem Jahr findet am 27. Juni ein Heimattreffen statt.
Bei Beerdigungen wird unter großer Beteiligung der Scheidelwitzer, im Namen der Scheidelwitzer Landsleute ein Kranz niedergelegt.

Rückershausen, den 29. Mai 1964



gez. Willi Raabe sen.